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„Adolescence“ auf Netflix


Adolescence auf Netflix - Serienplakat

 

Wenn Jugendliche morden

 

Toxische Männlichkeit und ein gefährlicher Trend in den sozialen Medien


Eine Tat, vier Perspektiven

 

Der Plot klingt zunächst einfach: Der 13-jährige Jamie Miller wird verhaftet, weil er eine Klassenkameradin ermordet haben soll. Was in anderen Serien als "Whodunit", sprich als Kriminaldrama inszeniert worden wäre, verwandelt sich bei Adolescence in ein intensives, fast schon dokumentarisches Psychogramm der Jugend von heute.

Jede Folge fokussiert sich auf einen anderen Charakter aus Jamies Umfeld – seinen Vater, einen engen Schul-Freund, die Psychologin, die ihn verhört und schließlich seine Familie, die nun lernen muss, mit der Schande zu leben, einen Mörder unter sich zu haben.

Besonders bemerkenswert: Jede Episode ist ein sogenannter "One Shot", also in einem einzigen Take gedreht. Regisseur Philip Barantini, bekannt für seinen One-Shot-Film Boiling Point, verwendet diese Technik nicht als bloßen Stilwillen, sondern als bewusstes Mittel zur Eskalation. Es gibt keinen Schnitt, kein Entkommen – weder für die Figuren noch für das Publikum. Der Druck steigt kontinuierlich, bis zur unausweichlichen Explosion.


Adolescence auf Netflix - Jamie wird festgenommen

Toxische Männlichkeit – nicht erklärt, sondern erlebbar gemacht

 

Was Adolescence so herausragend macht, ist die Entscheidung, toxische Männlichkeit nicht zu predigen, sondern sie erfahrbar zu machen. Die Serie erklärt nichts. Sie zeigt. 
Und zwar mit einer Wucht, die bis in die Knochen geht.


Der Vater, längst aus dem Leben der Familie verschwunden, wird zur mythischen Abwesenheit. Die Mutter kämpft gegen Jamies Sprachlosigkeit an. Die große Schwester – selbst gefangen in einem Netz aus Schuld, überlieferten Männlichkeitsidealen – glaubt, wie auch ihr jüngerer Bruder, Jamie müsse unbedingt „ein Mann“ werden, weil die Konventionen unserer Gesellschaft es nunmal so verlangen würden. Doch wer bestimmt das eigentlich, wenn nicht wir selbst?

In der Schule erkennt niemand die Warnzeichen, denn diese zeigen sich heutzutage nicht mehr auf dem Schulhof, sondern in den sozialen Medien. Dort ist Online-Mobbing das Schlüsselwort, dass an Jamies Schule scheinbar niemanden zu interessieren scheint. 
Die Lehrer haben mit den "Monstern von Schülern" schon genug zu tun. Es wird also auf die Eltern abgewälzt. Ein fatales gegenseitiges Ballzuspielen, das letztendlich im schlimmsten Szenario endet, das man sich nur denken kann - Mord.

Die Serie skizziert damit ein System: toxische Männlichkeit ist keine Eigenschaft – sie ist ein Konstrukt, das sich über Generationen hinweg reproduziert und in unscheinbaren Alltagsgesten versteckt: in abwertenden Kommentaren, im ständigen Druck zur Härte, im Schweigen gegenüber Gefühlen.


Adolescence auf Netflix - Nach dem Verhör

Ein digitaler Abgrund: Die Rolle der sogenannten "Manosphäre"

 

Ein zentrales Thema der Serie ist die Rolle der „Manosphäre“ – eine gefährliche Online-Welt aus Foren, Comunities wie Instagram und Facebook, sowie von Video-Kanälen wie Youtube und TikTok, in denen sich nicht nur junge Männer radikalisieren, sondern auch junge Frauen zur Bedrohung für eben jene Heranwachsenden werden, weil sie mit Mobbing-Attacken genau das befeuern, was sie selbst von sich abzuwenden wünschen - nämlich Femizid - also das Töten von Frauen aus frauenfeindlichen Motiven heraus.

Jamie verbringt viel Zeit in diesen digitalen Räumen, in denen Frauenverachtung, Verschwörungstheorien und Gewaltverherrlichung als Befreiung verkauft werden.

Die Serie spart nicht mit konkreten Anspielungen: Von Incels über Red Pills bis hin zu Alt-Right-Ideologien wird deutlich gemacht, wie perfide und effizient diese Netzwerke agieren. 

Adolescence macht sichtbar, wie schnell aus Einsamkeit und Orientierungslosigkeit ein Nährboden für Hass wird – besonders bei Jungen, die keine positiven männlichen Vorbilder haben.


Adolescence auf Netflix - Serienplakat 2

Die Radikalisierung als stiller Sturm

 

Was Adolescence besser macht als jede bisherige Serie zum Thema: Sie zeigt, dass Radikalisierung nicht laut beginnt. Kein Schrei. Kein Paukenschlag. Sondern ein stilles Verstummen. Ein langsamer Rückzug. Ein schleichender Verlust von Empathie.

Jamie wird nicht über Nacht zum Täter. Er ist kein Monster. Sondern ein Kind, das in einer Welt aufwächst, in der Gefühle als Schwäche gelten, Körperkraft als Währung und Dominanz als Lebensziel. Die Serie verweigert sich bewusst der Schwarzweißzeichnung. Täter und Opfer – diese Grenzen verschwimmen.

 

Stephen Graham als Darsteller und Produzent: Ein persönliches Projekt

 

Dass die Serie nicht von einem anonymen Kreativteam stammt, sondern von Jack Thorne und Stephen Graham produziert wurde, verleiht ihr zusätzliche Tiefe. Letzterer spielt in der Serie den Vater des jugendlichen Mörders und gibt damit seine bisher beste - wenn nicht  sogar Emmy-Reife - Leistung. Graham, selbst Vater, sprach in Interviews offen darüber, wie sehr ihn die Themen der Serie persönlich berühren. Er bezeichnete Adolescence als „das wichtigste Projekt, an dem ich je beteiligt war“.

Auch Thorne (Enola Holmes, His Dark Materials) bringt seine Fähigkeit ein, komplexe gesellschaftliche Themen in intime Geschichten zu übersetzen. Gemeinsam gelingt es dem Team, ein Werk zu schaffen, das gleichzeitig hochpolitisch und tief menschlich ist.


Adolescence auf Netflix - Jamies Vater ist verzweifelt

Spiel und Dreh - Eine Tour de Force

 

Die Leistungen der Hauptdarsteller der Serie sind schlicht atemberaubend. Allen voran der junge Owen Cooper als Jamie, der mit minimalem Ausdruck eine maximale emotionale Wucht erzeugt. Ohne viele Worte vermittelt er die innere Zerrissenheit eines Jungen, der gleichzeitig Kind und Zeitbombe ist.

Auch Christine Tremarco als Jamies Mutter brilliert. Ihre Hilflosigkeit, ihre Wut, ihre Liebe – all das bricht sich Bahn in einer Performance, die einen nicht mehr loslässt. Alle Figuren wirken erschreckend echt – keine Stereotypen, sondern Menschen. Es entsteht eine Intensität, die man sonst nur aus dem Theater kennt.

Kameramann Matthew Lewis schafft es, in Echtzeit ganze emotionale Spannungsbögen einzufangen. Die Kamera schwebt, hetzt, verharrt. Besonders beeindruckend: Die letzte Folge, die in einem Schulflur beginnt und im Innersten der Familie endet – ohne je die Illusion eines Schnitts.

Auch der Soundtrack – reduziert, düster, punktuell mit dröhnenden Dissonanzen versehen – trägt zur klaustrophobischen Atmosphäre bei.


Adolescence auf Netflix - Jamie und die Psychologin

Kritik und Rezeption

 

Während Kritiker weltweit die Serie feiern, bleibt die Reaktion in Teilen der Öffentlichkeit gespalten. Einige konservative Stimmen werfen der Serie vor, „Jungen unter Generalverdacht“ zu stellen oder „toxische Männlichkeit als universelle Wahrheit“ zu verkaufen. Doch diese Kritik verfehlt das Ziel – denn Adolescence klagt nicht an. Es zeigt. Und lässt uns damit allein.

Die meisten Rezensionen hingegen überschlagen sich mit Lob. Der Guardian nennt die Serie „ein Manifest gegen das Schweigen“, die New York Times bezeichnet sie als „unverzichtbar für eine Generation, die sich neu erfinden muss“. 

Auf Social Media entstehen Hashtags wie #SaveOurSons und #BreakTheSilence – begleitet von Erfahrungsberichten junger Männer.

Besonders stark: Die Serie wird inzwischen in britischen Schulen gezeigt, begleitet von Workshops zur Gewaltprävention und Medienkompetenz. Ein kulturelles Ereignis, das über die Grenzen des Fernsehens hinausreicht.

 

Fazit: Ein Fernsehmoment für die Geschichtsbücher

 

Adolescence ist keine Serie für zwischendurch. Sie ist unbequem, fordernd, anstrengend – und genau deshalb so wichtig. Sie konfrontiert uns mit einer Realität, die zu lange ignoriert wurde: dass unsere Söhne, Brüder, Freunde in einer Welt aufwachsen, die ihnen Stärke predigt, aber keine emotionale Sprache beibringt.

Wenn Kunst einen gesellschaftlichen Wandel anstoßen kann, dann tut diese Serie genau das. Sie zwingt uns, hinzusehen. Sie zwingt uns, zu fragen: 

 

Was tun wir, damit Jungen nicht zu Tätern werden?

 

Und vielleicht noch wichtiger: Was tun wir, damit sie sich selbst nicht verlieren?

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Was denkst Du darüber?

 

Hast du Adolescence bereits gesehen? Welche Gedanken hat die Serie in dir ausgelöst? Teile diesen Artikel mit Menschen, denen das Thema am Herzen liegt – oder die vielleicht selbst im Dunkel tappen. Denn Veränderung beginnt mit einem Gespräch.

Und wenn du mit mir darüber sprechen willst, dann besuch mich doch in meiner interaktiven Krimitour in Hamburg. 

 

 

Mehr über die CORPUS DELICTI Tour in Hamburg gibts hier ... 

 


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